Die Preußische Zeit

Ein neuer Abschnitt in der Geschichte Schlesiens bahnt sich an und leitet mit dem Regierungsantritt Friedrich des II. (1712-1786) am 31. Mai 1740 als König von Preußen eine neue Zeit für Schlesien ein.

Der König erhebt, noch bevor der durch die Thronbesteigung der Erzherzogin Maria Theresia ausgelöste Erbfolgekrieg beginnt, Ansprüche auf Teile von Schlesien.

Er führt um den Besitz Schlesiens mit unterschiedlichen Verbindungen drei Kriege:   

1740-42, 1744-45
und den Siebenjährigen Krieg von 1756-63.

Bereits nach dem Tod seines Vaters schlägt Jan Andreas die militärische Laufbahn ein, die traditionell schon sehr früh ihren Anfang nimmt.

Die von Preußen als Schulen eingerichteten Kadettenanstalten für den adligen Offiziernachwuchs nahmen die Söhne des Adels bereits im Alter von 10 Jahren auf.

Zwanzigjährig heiratet er die gleichaltrige Barbara Bronikowska herbu Przyjaciel, eine Verwandte des Generals Carl von Bronikowski, der schon unter Friedrich Wilhelm I. die Umgestaltung der preußischen Reiterei in Angriff genommen hatte.

Unter seinem Nachfolger, dem Dragoner-General Chedritz,  begann der jüngste Sohn, Jan Jirzi Lipinsky Poray ,seine militärische Laufbahn, wurde 16-jährig bei Hochkirch verwundet, stieg die militärische Rangleiter empor zum Major à la suite Friedrichs des Großen, der ihm sowie seinem Vetter Thomas Lipinsky Poray Dmowski am 17.12. 1762 Adelsbestätigung und Aufnahme in den preußischen Adel für die Familienzweige Erbscholtisei und Dmowski verlieh.

Damit sind für den 19jährigen Jan Jirzi die Weichen für seine militärische Laufbahn gestellt, und auf dem Weg in die ‘suite des Königs’ steht fast nichts mehr im Weg.

Im Alter von 22 Jahren heiratet er 1765 als Premier-Lieutenant zu Constadt die einzige Tochter des Herrn Major Carl Heinrich von Klosowsky und Smardy.

Als Trauzeugen werden nur die Regimentskameraden H. Capitän von Wolksy aus Namslau und Herr Major von Krolikowsky von Creutzburg genannt, die so feuchtfröhlich Abschied vom Junggesellendasein genommen haben, daß Jan Jirzi beinahe seine eigene Hochzeit verpasst hätte.

Davon zeugt für alle Zeiten der Eintrag des Pastors Cochlovius ins Kirchenbuch der ev. Pfarrgemeinde Constadt:

„ad not. ist die ganzt Gesellschaft erst in der fünft Stunde hundsmeßig vollgesoffen zur Kirche gekomen, so daß der Pastor Cochlovius gegangen und der Diaconus Freytag auff gemessenen Befehlt d. Herrn Patrohns die  Handlung vohrnehm. mußte“.

Der damals 28jährige Diaconus Georg Freytag gehörte durch die Versippung der Schönwalder Freytagstöchter mit den Poray Lipinsky zur Familie. Er ist der Großvater des Schriftstellers Gustav Freytag.

Sechs  Jahre später heiratet Jan Jirzi als Witwer und Königlicher Capitän 1771 zu Constadt Carolina von Rosenberg Lipinsky. Er ist nur noch selten oder in unregelmäßigen Zeitabständen in Gottersdorf.

1772  taucht sein Name im „Verzeichnis pohlnischer Adelicher der Potsdamer Garnison“ auf:

‚Dragohner Capitän von Poray Lipinsky, Erbrichter zu Gottersdorf im schlesischen Fürstentum, Erbherr auf Murkow im Pohlnischen’.

Im Frühling des Jahres 1776  erscheint er doch noch einmal in der Erbscholtisei bei seiner jungen Frau, die  darauf im Dezember 1776 im Cavalierhaus des Schlosses Bezyin einen Sohn zur Welt bringt, welcher am 17.12.1776 auf den Namen  ADAM FRIEDRICH getauft wurde.

 

Die Geburtsurkunde nennt nur zwei Paten: Herr Majohr von Redern und Herr Majohr von Ledebuhr.

Der Königlich Preußische Rittmeister, Jan Jirzi, bei der Geburt seines Sohnes nicht anwesend, lässt sich ein Jahr später scheiden, ordnet seine Verhältnisse und kehrt Gottersdorf und seiner Familie für immer den Rücken zu.  Das Kind wird seinen Vater nie kennenlernen.

Bis heute konnte noch nicht herausgefunden werden, wo sich das“ Schloß zu Bezyin auch Brzyin “ befindet.  Ist es ein Ortsname oder nur die Bezeichnung eines Besitzes?

Minne Lipinsky hat folgende Hypothese:

‚Bezyin’ – das ist sicherlich kein Ortsname, sondern wie unser ‚Dmowski’ der eines Besitzes, eines Gutes, eines Schlosses, und ich vermute, es ist der Besitz von Wrochem-Repetzky gemeint, des Großvaters mütterlicherseits der Carolina, des Forstmeisters. Da er ihr auch andere Besitztümer in Konstadt hinterlassen hat – Adam schenkt sie seiner ältesten Tochter, als sie den Pietruski heiratet, könnte ja auch Bezyin da irgendwo in den Wäldern liegen“.

 

Brief vom 17.09.1998 an Renate Wietschel

 

Viele Jahre später berichtet die „Chronik der Stadt und Herrschaft Parchim“ im Oktober 1783 über eine ansehnliche Hochzeit des Königlich-Preußischen Major vom Regiment Gens d’ Armes, Herr Johan George Lipinsky vom Geschlecht Porei zu Gottersdorf im Fürstentum Oels mit dem Fräulein Catharina Helene von Cramon aus dem Hause Ihlow.

„ Indeß die Trauung außwärts vollzogen, begann die Festlichkeit allhier und dauerte durch drei Tage, wobei wegen besonderen  Verhältnissen des Brautvaters, Kammer-Hrn Reimar von Cramon und gegen dessen Baldigstes Versprechen mehr denn achtzig Gäste aus den Herzog-tümern und Preußen vom Stadt-Kämmerer Täglich mit drei Mahlzeiten zu vier Gerichten nebst Heimischen Bier und Branntwein bewirtet worden sind“.

Die Regierungszeit Friedrich des Großen neigt sich ihrem Ende zu.

Für den Fall seines Ablebens hat er verfügt „Ein Begräbnis ohne Prunk und ohne die geringsten Zeremonien“.

Sein Neffe und Nachfolger, Friedrich Wilhelm II., ignorierte sein Vermächtnis und lässt ihn mit großem Pomp in der Potsdamer Garnisonskirche begraben.

Die letzten Stunden und das Leichenbegräbnis Friedrichs des II., König von Preußen, beschreibt  Carl Christian Horvath 1786 in einem Aufsatz.

Durch ihn erfahren wir, daß Jan Jirzi Lipinsky unter den Offizieren der Königlichen Suite zum Leichengefolge gehört, Ehrenwache am Sarge und bei den Reichs-Kleinodien hält und einer der acht Majors ist, die zur Führung der mit schwarzem Samt bedeckten Leichenpferde bestimmt sind, die den Sargwagen gezogen haben.

Mit dem Tod seines Herrschers 1786 ging auch für ihn die Ära am Hofe des Königs in Potsdam zu Ende.  28 Jahre lang hatte er Preußen treu gedient, Preußen, das seine Untertanen sein, bleiben und glauben ließ, was immer sie wollten, wenn sie nur taten, was sie sollten.

Er war immer dort, wo der König seine Schlachten schlug, Niederlagen erlitt und Siege errang, wurde geadelt‚ wegen „bewiesener unterthänigster Treue und Ergebenheit“, dachte Preußisch, fühlte Preußisch, erkannte die preußische Ordnung und deren Wertrangliste als vornehmsten Maßstab an, obwohl in seinem Zuhause an der Prosna bis hoch ins 19. Jahrhundert hinein Polnisch gesprochen wurde.

1787 verläßt er Potsdam und gilt für lange Zeit als verschollen.  Zehn Jahre später erfährt die Familie in Gottersdorf, daß er sich in Russland aufhält, als Kaiserlich-Russischer Generalmajor in 4. Ehe Anna Witwe Chmielska geborene Puttkamer geheiratet hat und sein einziger Sohn, Iwan Grigorjewitsch 1799 in Minsk geboren wird.

Jan Jirzi Poray Lipinsky, der 28 Jahre für den Preußischen Adler stritt, beendet seine militärische Laufbahn und auch sein Leben im Alter von 62 Jahren unter der Zarenkrone.

Er wird verwundet  in der berühmten „Dreikaiserschlacht“ bei Austerlitz, in der am 2. Dezember 1805 Napoleon über die Österreicher und Russen siegte, und stirbt am folgenden Tag, dem 3. Dezember 1805 bei Austerlitz.

Das Wichtigste im Leben des Jan Jirzi war seine militärische Laufbahn.

Ruhm und  Ehre erkämpfte er sich auf den Schlachtfeldern, wie einst seine Vorväter in Polen und Böhmen.

Seine 4 Ehen mit jungen Frauen aus einflussreichen Familien ebneten ihm den Weg dafür. Das Beste jedoch waren seine beiden Söhne, die den Stamm der Poraje fortpflanzten.

Sein  Sohn aus der Ehe mit Caroline von Rosenberg Lipinsky hatte als erster Poray  Lipinsky keine Ambitionen, die alte Tradition der Vorväter fortzusetzen und wählte statt militärischer Laufbahn, das Leben eines Erbscholzen auf eigenem Grund und Boden in Gottersdorf.

*  *  *

Als Adam Carl Friedrich Poray Lipinsky nach 4 Jahren Studentendasein in Halle nach Gottersdorf zurückkehrt, übernimmt er die Erbscholtisei und ist fortan Erb- und Gerichtsscholz zu Gottersdorf, und Dombrowa, Herr auf Antheil Würbitz und Haus- und Grundstücksbesitzer in Constadt.

Er gründet eine Familie. Seine Wahl fällt auf die Tochter des Schönwalder Erbscholzen Freytag, Anna Rosina, die er am 1. Februar 1798 heiratet. Das Glück ihrer Ehe währte nur kurze Zeit. 1806 stirbt die junge Frau nach der Geburt ihres vierten Kindes. Neben diesem persönlichen Schicksalsschlag musste sich der junge Erbscholz Adam einer neuen politischen Situation stellen. Es war die Zeit der französischen Revolution, des Niedergangs Preußens, der Eroberungszüge Napoleons.

 

Eine schwere Zeit für einen Erbscholzen, sein Dorf durch die Schwierigkeiten von Einquartierungen, Kontributionen und Rekrutierungen zu bringen.

Nach dem unglücklichen Ausgang der Schlacht bei Jena und Auerstädt 1806 rückten die Franzosen in Schlesien ein. In den Kreis Kreuzburg kamen am 20. August 1807 insgesamt 17 französische Kompagnien, die auf die Städte und Dörfer verteilt wurden.  Nicht nur die Verpflegung, auch der Transport der Truppen und ihrer Bagage waren eine drückende Last.

Nach dem Frieden von Tilsit 1807 kam durch die Stein-Hardenbergschen Reformen auch die Abschaffung der Gut- und Erbuntertänigkeit der Bauern auf ihn zu.  Um Amt, Familie und Landwirtschaft aufrechtzuerhalten, den vier Kindern wieder eine Mutter zu geben und eine Frau an seiner Seite zu wissen, heiratet Adam ein halbes Jahr später die Cousine der Verstorbenen, Rosina Kabitz, Tochter des Erbmüllers Johann Kabitz aus Kreuzburg und seiner Ehefrau Rosina Piantkin, die vielleicht schon zuvor als helfende Kraft im Haushalt tätig gewesen war.

Rosina gebar ihm drei weitere Kinder, von denen zwei noch ganz klein sterben. Nach elfjähriger Ehe stirbt auch Adams zweite Ehefrau. Zurückbleiben der Vater und vier unmündige Kinder.

Adam Carl Friedrich nahm schon drei Monate nach ihrem Tod deren Nichte Eva Barbara Kabitz zur Ehe, die 21 Jahre jünger war als er und ihm weitere vier Kinder gebar. Beide Kabitz-Töchter waren Freytag-Enkelinnen.

Im Sommer 1819 erblickt im roten Backsteinhaus mit den „vier Säulen“ Johanna das Licht der Welt.

An ihrer Wiege stehen drei neugierige Geschwisterkinder aus den vorangegangenen Ehen. In den Jahren von 1822 bis 1826 werden den Eltern noch drei Söhne geboren, die aber jung sterben.

Von nun an sind es Frauen, die das Band der Generationen bis zu mir weiterweben und den Familiennamen Poray Lipinsky, später nur noch Lipinski, durch neue ersetzen.

Johanna Poray Lipinsky  heiratet 1839 den Erbscholzensohn Carl Christian Pietrusky aus Bürgsdorf.

Acht Kinder entstammen dieser Ehe, alles Töchter.

Maria Agnes Pietrusky (1850-1943), mittelste Tochter, und ihre Nachkommen tragen den Familiennamen Herbst.

Meine Großmutter Anna Maria Herbst verwandelte 1910 in Berlin ihren Familiennamen in Trutwin.

Sie und  „Das geheimnisvolle Foto“ waren Ausgangspunkt meiner Spurensuche, mit ihr schließt sich der Kreis, um sich wieder für kommende Generationen zu öffnen.

Die Geschichte der Erbscholtisei in Gottersdorf wird wie folgt weitergeschrieben.

Im Alter von 65 Jahren übergibt Adam Carl Friedrich Poray Lipinsky seinem Sohn aus zweiter Ehe, Christian Gottlieb Poray Lipinsky, 1841 die Erbscholtisei mit allen Rechten und Pflichten.

Noch ist das Amt des des Erb- und Gerichtsscholzen erblich.

1844 heiratet der junge Erbscholz  Susanna Beate Freytag vom Erbscholzenhof in Sarnau.

Hatte sich zwischen dem Poray- Lipinsky- Dmowski-Zweig und den Schönwalder Erbscholzen ein Bereich besonders dichter Verwandtschaft herausgebildet, so bahnt sich in der nächsten Generation eine ähnliche Entwicklung zwischen den Gottersdorfer Erbscholzen  und den Sarnauer Freytag an. Nur stellten diesmal die Poray Lipinsky die Söhne, die Freytag deren Frauen.

Als Christian Gottlieb Poray Lipinsky 1857 verhältnismäßig jung stirbt, hinterlässt er vier unmündige Kinder.

Fortan ist seine Witwe Susanne Beate Poray Lipinsky, geborene Freytag, die Besitzerin der Erbscholtisei in Gottersdorf.

Da sie noch jung an Jahren ist, der Hof aber eine Männerhand und die Kinder einen Vater brauchen, heiratet sie ihren Cousin Hermann Freytag vom Erbscholzenhof Schönwald.

Keine 10 Jahre sind der Ehe beschieden, als er 1867 stirbt.

Im Haus leben noch die 18jährige Tochter Henriette Emilie, der 16jährige Friedrich Christian Levin und der 11jährige Carl Robert Theodor Poray Lipinsky, der künftige Erbscholtiseibesitzer.

Auf diesem „Viergenerationenbild“ schauen wir in das Gesicht der 91jährigen Susanne Beate Poray Lipinsky, geb. Freytag, gehalten von ihrer Urenkelin Rosemarie Rechts im Bild ihre Tochter Henriette Helene Emilie, die 1871 den Lederfabrikanten Gustav Uber aus Kreuzburg heiratet, und stehend deren Tochter Erna Eva Else Uber.

1881 löst der jüngste Sohn, Carl Robert Theodor Poray Lipinsky , seine 60jährige Mutter ab und wird mit 25 Jahren Erbscholtisei-Besitzer von Gottersdorf.

Das erbliche Scholzenamt, seit 1872 aufgehoben – wird nun durch das Amt des gewählten Gemeindevorstehers ersetzt.

Er heiratet am 21. Juni 1881 die Tochter des Erb- und Gerichtsscholzen Daniel Freytag aus Sarnau, Wilhelmine Louise Freytag * 20.12. 1855 in Sarnau  + 28.4. 1929 in Gottersdorf.

Carl Robert Theodor Poray Lipinsky unterschrieb den Ehevertrag nur mit „Lipinsky“ ohne den Zusatz  „Poray“, der ihm und allen folgenden Generationen im neueingeführten Standesamtregister verloren ging.

In 12 Jahren kommen sieben Kinder zur Welt.

Neben der Landwirtschaft wirkt Carl Robert Lipinsky als „Provinzialdeputierter“.  Doch auch ihm ist kein langes Leben beschieden. Er stirbt mit 46 Jahren.

Im Erbgang geht nun die Erbscholtisei von 1902-1932 an seinen Sohn Georg Daniel Wilhelm Lipinsky, der wieder verhältnismäßig jung, unverheiratet, stirbt.

Sein Bruder Robert Karl Theodor Lipinsky übernimmt die ritterliche Erbscholtisei und wird der letzte Herr auf Gottersdorf sein.

Nach dem Ende des 1. Weltkrieges heiratet er 1918 in Lissa, Prov. Posen, die Tochter des Verlagsbuchhändlers des berüchtigten Ostmarkenverlages, Oskar Eulitz. Dieser hatte, nachdem ihn die polnische Behörde aus Lissa vertrieben, in Stolp/Pommern einen neuen Verlag und eine Buchhandlung eröffnet.

Ab jetzt bestimmen die weiteren Ereignisse in Preußen und damit auch in Schlesien der Waffenstillstand vom 11. Nov. 1918, das Inkrafttreten der Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 und der Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 das Leben.

Das noch während des 1. Weltkrieges in Paris gegründete „Polnische Nationalkomitee“ meldet im August 1919 Ansprüche auf Teile Schlesiens an. Unter dem Druck internationalen Öffentlichkeit einigen sich die Alliierten entgegen ihrer ursprünglichen Absicht auf die Zulassung einer Volksabstimmung in großen Teilen Oberschlesiens. Das Abstimmungsgebiet wird von französischen, italienischen und britischen Truppen besetzt. Hierauf versuchten die Polen in einem von außen nach Oberschlesien hineingetragenen Aufstand, eine Abtretung Oberschlesiens ohne Abstimmung zu erreichen.

Inmitten der dramatischen Ereignisse um die oberschlesische Volksabstimmung wird am 5. Februar 1920 im Gutshaus der Familie von Zboralski bei Leschnitz/Annaberg das erste Kind von Robert Lipinsky und Lina geb. Eulitz geboren.

Robert Lipinsky und von Zboralski standen kriegerisch beim autochtonen Freicorps und waren in der Nähe von Gogolin stationiert. Sie gehörten zum „oberschlesischen Selbstschutz“ unter Führung des Generals Höfer, der – verstärkt durch Freiwillige aus ganz Deutschland – am 21.5.1921 den von Polen besetzten Annaberg – den Symbolberg Oberschlesiens – erstürmte. Die geplante Befreiung der von den Polen eingeschlossenen Städte des Industriegebietes wird von dem französischen Kommandierenden General verhindert. Er erzwingt die Auflösung des deutschen Selbstschutzes und später auch die der polnischen Verbände.  1921 beschließt eine Botschafterkonferenz in Genf die Teilung Oberschlesiens.

Die wirtschaftlich wichtigeren Teile des Industriegebietes fallen an Polen. 1922 tritt wieder die deutsche Verwaltung in dem bei Deutschland verbliebenen Teil Oberschlesiens mit Oppeln als Hauptstadt in Kraft.

 

Die junge Mutter hatte bereits vorher mit ihrem Baby das umkämpfte Gebiet in Oberschlesien verlassen und ist zu ihren Eltern nach Stolp in Ostpommern gezogen.

Hierher kehrt auch ihr Mann Robert Lipinsky nach Abschluß der oberschlesischen Kämpfe zu seiner Familie zurück und arbeitet dort als vereidigter Dolmetscher für Polnisch und Russisch im Preußischen Landgericht.

Robert Karl Lipinsky, seine Ehefrau Lina,
geborene Eulitz, und ihr Erstgeborener Hans Robert Oskar

 

„In seinen Erinnerungen“, so beschreibt Hans Lipinsky, „war Stolp nie das richtige Zuhause.

Das war Gottersdorf, wo die Kinder in jedem Jahr für viele Wochen bei ihrem Onkel Juri eine unvergesslich schöne Zeit verbrachten. Die Erbscholtisei, auf der die Familie seit über 200 Jahren sesshaft war, gehörte ihm“.

Robert Karl Theodor Lipinsky
* 10.08. 1889 in Gottersdorf
+ 23.10.1960 in Köln
Letzter Herr eines alten Familienbesitzes,
Erbscholtiseibesitzer
von 1932-1945 Oberamtsanwalt,
Justiz-Dolmetscher für slawische Sprachen
Major a.D.

Sein Leben lang nach Haltung und Gesinnung ein slawischer Preuße

 

„Als das Dritte Reich anbrach“, so Hans Lipinsky Gottersdorf  über seinen Vater, „hatte er mit seinen fünfzig Jahren ernstlich geglaubt, er werde Hitler nicht mehr dienen müssen. Man berief ihn zu einer Übung ein.

Im April 45, zu Wildflecken in der Rhön, wurde er aus dem Wehrdienst entlassen. Im Herbst desselben Jahres erreichte ihn aus Kattowitz, wo er im Krieg anderthalb Jahre als Wehrmachtsfürsorgeoffizier Dienst getan, ein Schreiben früherer Aufständischer, die im Krieg von der braunen Rassenbehörde unter Volksliste Vier eingestuft, zur Ausrottung bestimmt gewesen waren.

Sie teilten ihm mit, daß er, falls er nach Oberschlesien zurückzukehren wünsche, willkommen sein werde. Weil er ein Preuße bleiben wollte, hat er diese Einladung dankend abgelehnt und ist im Oktober 1960 in Köln gestorben“.

 

Immer, wenn Hans Lipinsky Gottersdorf gefragt wurde, warum er Schriftsteller geworden sei, wusste er nicht so ohne weiteres eine Antwort darauf.

„Als ich meine ersten schriftstellerischen Versuche machte, war ich immerhin schon dreißig Jahre alt, hatte – daheim noch – einen aus Neigung erwählten Beruf, die Landwirtschaft, erlernt und nach dem Kriege in drei oder vier anderen vorübergehend gearbeitet. So ist also mein Werdegang scheinbar ganz vom Zufall und durch äußere Ereignisse bestimmt worden. Ich muß also sehr genau zurückschauen in die Welt, aus der ich komme, wenn ich die verborgenen Anzeichen entdecken will, die, indes ich noch barfüßig über die Felder lief und danach trachtete, möglichst rasch ein ausgewachsener Bauer zu werden.  Ich liebte nichts so sehr wie Geschichten.

Die patriarchalisch-bäuerliche Ordnung, in der wir lebten, umschloß uns fest und gab uns das Gefühl warmer Geborgenheit. Alles schien voller Frieden, aber der Schein trog.

Winterliche Schlittenfahrten in die kleine Stadt Kreuzburg und in die Schrotholzkirchen einsamer Dörfer, darin die Bauern mit brummender Stimme feierliche Choräle sangen,  die Fröhlichkeit der Feste und Jagden – all dies breitete trügerischen Glanz über eine Oberfläche, die schon von Rissen und Sprüngen durchzogen war.

Dann kam der Krieg und die Katastrophe, geboren aus Unverstand, Überheblichkeit und Haß.

Als ich mich lange Jahre danach wiederfand, Arbeiter in einer Kölner Fabrik, war die Welt zerstört, so zerstört, daß sie nie wiederkommen wird.  Meine Geschichten sind wohl nichts anderes gewesen als Versuche, fertig zu werden mit den Ereignissen, die hinter uns lagen.  Die Zeit kommt und geht und tut nicht viel, aber sie tut das Ihre.

Länder und Provinzen wechseln die Bewohner, werden menschenleer und bevölkern sich wieder und bleiben doch unverwechselbar sie selber.

Im Jahr 1980, im heißen Mai, bin ich zum ersten Mal seit fast vierzig Jahren wieder in meinem Zuhause gewesen.

Ich betrat, eingeladen, mein Vaterhaus, das breit und wuchtig wie eh und je zwischen alten Bäumen ruht. In den noch benützbaren Räumen des Paterre residierte die sozialistische Genossenschaft.

Mein Gastgeber, der Wächter des Hofes, ein alter Partisan aus der Lemberger Gegend, bewohnt seit 1946 mit Frau und inzwischen zwei Töchtern mein vormaliges Bubenzimmer im Obergeschoß.

Er sprach einen ostpolnischen, vermutlich podolischen Dialekt und fragte, ob ich einmal zurückkehren wolle in dieses Haus und auf meinen Hof.

Ich ließ ihm sagen, daß ich fast so alt sei wie er. Da trank er mir wortlos zu und fragte höflich und sehr wohl überlegt, ob ich einen Sohn habe, auf dessen Gesundheit er noch trinken könne. Ich sagte, daß ich nur eine Tochter habe. Das tue ihm leid für mich, ein Mann ohne Söhne, sei wie ein Gewitter ohne Blitze, aber er war doch ersichtlich hochzufrieden, nur auf das Wohl der einen, ungefährlichen Tochter trinken zu brauchen.

Am nächsten Tag war ich dann doch ein wenig traurig darüber, daß mir mein altes Zimmer, das ganze alte Haus so fremd geworden waren.

Wiederum einen Tag später ging ich in brütender Vormittagshitze auf dem alten weißen Feldweg zu unserer alten Grenze am Pratwa-Bach hinaus.

Unterwegs dachte ich an das Wort des August Scholtis: ‚ Ich habe ein ganzes Leben an etwas gehängt, was es nicht gibt: Preußen’, das seit anno 1871 auch die Wahrheit meines Großvaters, später meines Vaters gewesen, die hier vor mir gegangen waren. Und ich dachte, daß es ein preußischer Totentanz gewesen, was ich in den ersten fünfundzwanzig Jahren meines Lebens hier und anderswo im Osten zu sehen bekommen, nein, nicht nur su sehen bekommen: ich war mitgewirbelt worden und selbst mitgewirbelt von Anfang an: im Steckkissen, im weißen Russenkittelchen der ersten Kinderjahre, in kurzen Jungenhosen, in landwirtschaftlichen Elevenstiefeln, derbem Lodengrün zuletzt in Uniform.  Und ich bin doch entkommen und gehe hier und bin immer noch ich, das Scholtiswort nicht nur im Sinn, sondern auch im Herzen.

Das dachte ich und ging eine dreiviertel Stunde durch feurige Sonnendaunen über oberschlesische Äcker und stand zuletzt unweit der Pratwa allein auf harten Letteklumpen in kümmerlich sprießendem Weizen: Letteklumpen, mit denen zu unserer Zeit Traktor, Pferde- und Ochsengespanne mühsam hatten fertig werden können, wenn man den rechten Zeitpunkt nicht verpasste. Die Traktoren der Sozialistischen Genossenschaft allein schaffen es nicht; sie kamen wohl auch meistens zu spät oder zu früh.

Der Sozialismus hat seinen Plan, und die Erde den ihren, den sie sich nicht abgewöhnen noch aborganisieren lässt.

Rings um mich dehnte sich weit und breit die menschenleese Dombrowa, die mein Urgroßvater anno 1856 vor seinem frühen Tod, hatte roden und umbrechen lassen.

Im nahen Eichenbusch an den Bacheswiesen begann der Sprosser zu schlagen. Und wiewohl im vierten Jahrzehnt des Daseins in einer großen Stadt, verstand ich seine Sprache immer noch. Und ich war endlich zu Hause, zu Hause, ganz und gar daheim.

Ich zog dankbar und respektvoll meinen Hut, wandte mich gehorsam und ging langsam den Weg, den ich gekommen war, zurück“.

Mit Hans Lipinsky, Sohn des letzten Herren auf Gottersdorf, der hier seine Kindheit und Jugend verbrachte und das deutsch-polnische Zusammenleben erfahren hatte, schließt sich der Kreis vom Werden und Vergehen der Erbscholtisei und seiner Besitzer.

„In der kopfzahlstarken Großfamilie war das Bewusstsein slawischer Abstammung niemals  verlorengegangen.

Zu Ende des 17. Jahrhunderts waren aus Litauen zwei sich zum Luthertum bekennende Poray Lipinsky in das Land Kreuzburg gekommen und hier durch Heirat landsässig geworden.

Jahrzehnte später bedeutete für deren Enkel der Übergang an die preußische Krone Glaubens- und Gewissensfreiheit; durch weitere fünf Generationen hat die Familie dem Staat Preußen Offiziere und Beamte gestellt.

In ihren Häusern an der Prosna aber wurde noch bis hoch ins 19. Jahrhundert hinein polnisch gesprochen, allein sie dachten preußisch, sie fühlten preußisch, und sie erkannten die preußische Ordnung und deren Werte als vornehmsten Maßstab an“.

 

HANS ROBERT OSKAR LIPINSKY

IN GROSSER DANKBARKEIT GEWIDMET

 

  1. Februar 1920 zu Leschnitz/Oberschlesien

+  3. Oktober 1991 zu Köln

Landwirt

Seit 1951 freier Schriftsteller unter dem Namen

„HANS LIPINSKY-GOTTERSDORF“

 

 

AUSGEZEICHNUNGEN

1957 1. Preis der Dt. Hochseefischerei
1964 Ehrengabe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste
1966 Andreas Gryphius-Preis
1970 Eichendorff-Literaturpreis
1974 1. Preis im Hörspiel- und Erzähler-Wettbewerb d. Ostdt. Kultur-Rates
1977 Kulturpreis Schlesiens der Niedersächsischen Landesregierung
1986 Oberschlesischer Kulturpreis

 


Quelle:  Renate Wietschel Ahnenforschung – Preussische Zeit