Meine Stimme für den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche
Eine Kindheitserinnerung an Potsdam
Als Kind, in den dreißiger Jahren im Berliner Prenzlauer Berg geboren und aufgewachsen, verlief mein Leben überwiegend im Kietz um den Wörther Platz (heute Kollwitzplatz) herum. Das war damals ganz normal.
Unsere „Reisen“ hinaus aus der Kietzwelt führten uns mehrmals im Jahr an Familienfeiertagen zu den Großeltern nach Lichtenberg, zur Laubenpiepe in Pankow-Heinersdorf und an den Störitzsee, die jedesmal für uns Kinder zu einem besonderen Erlebnis wurden und unseren Horizont erweiterten.
Doch einige wenige Ausflüge sind bis heute ganz stark in meinem Gedächtnis abgespeichert, unsere S-Bahnfahrten nach Potsdam. Allein entlang der einstündigen Fahrt vom Alex bis Potsdam gab es schon so viel Aufregendes zu sehen. Das war aber nichts gegen den Anblick , der sich mir bot beim Überqueren der Brücke vom Bahnhof Potsdam aus.
Eine märchenhafte Kulisse wartete nur darauf, von mir erkundet zu werden. Ich lief geradezu am Schloß entlang, weiter in Richtung der Garnisonskirche und schaute erst am Stadtgraben zurück nach meiner Mutter.
Und es war bei jedem Besuch immer der gleiche Weg, mit dem ich meine Erkundungen in Potsdam begann. Ich, ein Kind aus dem weiten, großen und lauten Berlin, verzaubert von Potsdam, einem kleinen heimeligen Ort, den ich an einem Tag bis nach Sanssouci durchlaufen konnte.
Doch dann kam der Krieg und die Katastrophe. Wir waren mitgewirbelt worden und fanden uns auf Trümmern wieder. Als sich dann langsam das Leben wieder normalisierte, die S-Bahn wieder nach Potsdam fuhr, wollte auch ich meinem kleinen heimeligen Städtchen mit den wunderbaren Bildern meiner Kindheit im Herzen einen Besuch abstatten. Bereits der Anblick von der Brücke aus verhieß nichts Gutes. Auch Potsdam ist nicht verschont geblieben. Kurz vor Kriegsende zerstörte ein Luftangriff die Innenstadt und das Stadtschloß brannte bis auf die Außenmauern nieder. Trümmer überall, von der märchenhaften Kulisse meiner Kindheitserinnerungen zeugten nur noch Mauern, die in den Himmel ragten.
Später führte ich meine Kinder und diese wiederum die ihrigen an diesen Ort und seine Geschichte.
Nach der Wende mehrten sich die Stimmen für den Wiederaufbau der historischen Gebäude wie das Stadtschloß, der 2010 begann und in dem der Brandenburger Landtag ein neues Zuhause gefunden hat.
Unter dem Motto „Geschichte erinnern – Verantwortung lernen – Versöhnung leben“ wird am 29. Oktober 2017 auf der Baufläche Garnisonskirchenturm Potsdam mit einem Gottesdienst der nun beschlossene Wiederaufbau feierlich eingeleitet als ein Ort der Versöhnung sowie für das Gedenken an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
Hier nun fügte es sich bei der Erforschung meiner Familiengeschichte, daß es eine sehr viel ältere Beziehung zu Potsdam und zur Garnisonskirche für mich gibt.
Mein 5. Urgroßvater, Jan Andrzej Poray Lipinsky, kämpfte im Siebenjährigen Krieg als Capitän bei den Chettritz-Dragonern zusammen mit seinem 15jährigen Sohn Jan Jirzi 1758 in der Schlacht um Hochkirch und ist „auf dem Feld der Ehre“ gefallen. Sein Sohn jedoch überlebte.
Kurz vor Ende des Schlesischen Krieges 1762 erhalten er, posthum, und sein Sohn, Jan Jirzi Poray Lipinsky Sec.-Lieutenant, die Preußische Adelslegitimation von Friedrich dem Großen.
Damit sind für den 19jährigen Jan Jirzi die Weichen für seine militärische Laufbahn gestellt und auf dem Weg in die „Suite“ des Königs steht nichts mehr im Weg.
1772 taucht sein Name im „Verzeichnis Pohlnischer Adelicher der Potsdamer Garnison“ auf. Weil er dringend Geld für seine militärische Laufbahn und dem kostspieligen Leben in Potsdam benötigte, verkauft er seine Anteile an der Erbscholtisei Gottersdorf und wird nie wieder zu Frau und Sohn dorthin zurückkehren.
In einem Aufsatz von 1786 über „Die letzten Stunden und das Leichenbegräbnis Friedrich des II. König von Preußen“ wird erwähnt, daß Jan Jirzi Poray Lipinsky, mein 4. Urgroßvater, zu den Offizieren der Königlichen Suite gehörte, die die Ehrenwache am Sarge und bei den Kleinodien hielten und einer der acht Majohrs war, die zur Führung der Leichenpferde hin zur Garnisonskirche ausgewählt worden sind.
Mit dem Tod seines Herrschers 1786 ging für ihn die Ära am Hofe des Königs in Potsdam zu Ende.
Hans Lipinsky-Gottersdorf, Schriftsteller und Nachkomme, schrieb über ihn: „28 Jahre hat er Preußen treu gedient, das seine Untertanen sein, bleiben und glauben ließ, was immer sie wollten, wenn sie nur taten, was sie sollten. Er war immer dort, wo der König seine Schlachten schlug, Niederlagen erlitt und Siege errang, wurde geadelt wegen bewiesener unterthänigster Treue und Ergebenheit, dachte preußisch, fühlte preußisch, erkannte die preußische Ordnung und deren Wertrangliste als vornehmsten Maßstab an, obwohl in seinem Zuhause an der Prosna bis hoch ins 19. Jahrhundert hinein polnisch gesprochen wurde“.
1787 verläßt er Potsdam und gilt für lange Zeit als verschollen. Erst zehn Jahre später erfährt die Familie auf der Erbscholtisei Gottersdorf, daß er in Rußland unter der Zarenkrone als Kaiserlich-Russischer Generalmajor kämpft bis zu seinem Tode 1815 in der Schlacht bei Austerlitz.
Hier schließt sich der Kreis, um sich auf’s neue zu öffnen.
Und wie es der Zufall will, lebt mein Sohn mit seiner Familie in Potsdam, genau dort, wo einst die Roten Kasernen für preußischen Dragoner errichtet wurden, heute als Wohnungen umgewidmet.
Seine beiden Söhne haben das Potsdamer „Einstein-Gymnasium“ an der Hegelallee absolviert und auch die Chance genutzt, ihre Stadt von Nord nach Süd, von Ost nach West zu erkunden und haben sie lieb gewonnen, genau wie ich einst vor 75 Jahren, und sie zu ihrer Heimat erklärt.
Und deshalb begrüße ich, daß das von mir als heil erlebte Potsdam und zu Ende des Krieges zerstörte, nach und nach ein Teil seines Antlitzes wieder erhält, zur Freude, aber auch als Mahnung an unsere Kinder und Kindeskinder.
Liebste Mutter verzeih, ich kann dem so nicht folgen!
Reale Welten – so stark und eindeutig sie auch scheinen – basieren auf Einbildungen und Interpretationen und Geschichte ist Geschichte, damit Zukunft zur Zukunft werden kann!
Am 29. Oktober 2017 feierten einige Individuen in Potsdam – der Spiel- und Garnisonstadt der preußischen Könige – eine Art Wiederbelebungszeremonie für den Neubau des Altbaus Garnisonkirche Potsdam.
Kindheitserinnerungen, insbesondere wenn sie mit einer Zeit der Verletzlichkeit und Geborgenheit verknüpft sind, sind eine starke Triebfeder und entziehen sich zum Teil der Logik und Entscheidungen nach gesundem Menschenverstand.
Als gebürtiger Berliner in Potsdam, fühlt man sich manchmal als Besucher in einem etwas eingestaubten und schäbigen historischen Museumsmusterdorfspektakel mit asiatischen LED-Lichterketten und Kunstschnee.
Hierzu muss man sich vor Augen halten, dass die historische Aufgabe der Stadt in der militärischen Vorbereitung, Ausrüstung und Aufbewahrung der militärischen Einheiten des Preußischen Staates lag.
Liebste Mutter, ich verstehe die Bedeutung der unbeschädigten und faszinierenden Erinnerungen aus Potsdam, der Verbindung mit Sicherheit und den Gefühl der Zugehörigkeit zu einer vergangenen Epoche.
Ich verstehe die Kraft der Erinnerung und der Besinnung auf den eigenen Ursprung und darum kann ich nicht umhin, dem Aufbau einer Replik der Garnisonkirche entgegenzustehen:
Aus fester Überzeugung, aus historischem Geschichtsverständnis, aus Ehrerbietung den Ahnen gegenüber und aus der Notwendigkeit Zukunft gestalten zu müssen; eine Zukunft, in der die Ahnen ihren Platz haben und in der deren Nachkommen und Nach-Nachkommen ihre Geschichte schreiben und vor allem leben können.
ADW